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Der RehaTreff hat einen Fachbeitrag zum Thema Elternschaft mit Querschnittlähmung veröffentlicht. Lesen Sie Erfahrungen von Betroffenen, Fachärzten und erfahren Sie alles zu den Möglichkeiten.
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RehaTreff, Werner Pohl
Trotz Handicap Vater oder Mutter werden? Eine große Entscheidung, aber das ist sie für nicht behinderte Eltern auch. Die Unterschiede fallen weniger ins Gewicht, als man auf den ersten Blick meinen möchte.
Die Entscheidung dafür oder dagegen, Kinder haben zu wollen, zählt zum Grundsätzlichsten, was eine Partnerschaft ausmacht. Dank der zu Gebote stehenden Mittel müssen ungewollte Schwangerschaften nicht sein. Und wo Kinder erwünscht sind, lässt man den Dingen einfach ihren Lauf. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass das eine wie das andere nicht frei von Unwägbarkeiten und Überraschungen ist. Ungewollte Schwangerschaften und Kinderlosigkeit wider Willen sind veritable Belastungsproben. Aber so ist das Leben nun mal.
Interessanterweise sind viele Zeitgenossen der Ansicht, Menschen im Rollstuhl seien von derlei Ereignissen ausgenommen. Obwohl es genügend Beispiele gibt, die das Gegenteil belegen, sind nicht mit der Materie Vertraute häufig der Ansicht, die Frage nach Elternschaft stelle sich für "Behinderte" gar nicht. Betroffene wissen es besser. Wer zum Beispiel mit Querschnittlähmung lebt, ist keineswegs ausgenommen von der Überlegung, eine Partnerschaft mit oder ohne Kind leben zu wollen. Anders als bei Fußgängern spielen bei der Entscheidung allerdings ein paar zusätzliche Faktoren eine Rolle. Das beginnt mit dem Umstand, dass Querschnittlähmung in aller Regel plötzlich in Lebensläufe einbricht. So man denn nicht von Geburt an betroffen ist, spielen Lebensalter und soziale Situation eine wesentliche Rolle. Wer bereits als Vater oder Mutter verunfallt oder erkrankt, wird mit der Frage konfrontiert, wie Elternschaft im Rollstuhl künftig zu bewerkstelligen sein wird. Wer zum Zeitpunkt des Ereignisses diese Lebensphase noch vor Sicht hat, wird im Zuge seines Rehabilitationsprozesses feststellen: Es kommen bei der Entscheidung für oder wider eine Elternschaft zwar einige zusätzliche Überlegungen ins Spiel, das Grundsätzliche der Entscheidung ist aber gar nicht so verschieden von den Gedanken, die jedem vor einem solchen Schritt durch den Kopf gehen dürften.
Traue ich mir eine Elternschaft zu? Wie wird das praktisch funktionieren - Spielplatz, Kindergarten, Schule, Haushalt, Urlaub mit einem Kind? Was schon das Leben von Fußgängereltern von einem Tag auf den anderen völlig auf den Kopf stellt, will für einen Rollstuhlnutzer noch einmal unter einer ganzen Reihe von zusätzlichen Faktoren durchdacht werden. Durchdacht? Natürlich ist die Entscheidung für ein Kind keineswegs nur eine rationale, sondern auch eine in hohem Maß emotionale Angelegenheit. Vielleicht ist eine Verbindung, die schon den Härtetest "Partner im Rollstuhl" bestanden hat, ja gerade ein gutes Fundament dafür, auch einen Menschen gemeinsam ins Leben zu führen. Ein Kind, das mit einem Elternteil im Rollstuhl aufwächst, wird zudem mit Erfahrungen groß werden, die im weiteren Verlauf des Lebens nützlich sein dürften.
Wollen wir Kinder oder nicht? In den seltensten Fällen wird diese Frage bei akut Verunfallten oder Erkrankten im Vordergrund stehen. Zu viele neue Eindrücke und Herausforderungen wollen verarbeitet und bewältigt werden. Der Themenkomplex Sexualität und Elternschaft steht da schwerlich ganz oben auf der Prioritätenliste. Aber wenn es so weit ist, kann es gut sein, dass die Einschränkungen durch die Behinderung nur eine Nebenrolle bei der Entscheidung spielen.
In jedem Fall gehört Informationsvermittlung zu Sexualität und Elternschaft standardmäßig zum Prozess der Erstrehabilitation, denn natürlich gelten auch für diesen Bereich des Lebens, wie für praktisch alle andere auch, neue "Spielregeln". Während für querschnittgelähmte Frauen eine Empfängnis im Allgemeinen normal möglich ist, unterliegt die Zeugungsfähigkeit bei querschnittgelähmten Männern, abhängig von der Lähmungshöhe, meist Einschränkungen. Das "Projekt Vaterschaft" bedarf deshalb medizinischer Unterstützung, die sich auf die Samengewinnung konzentriert. Die sich anschließenden Verfahren zur künstlichen Befruchtung unterscheiden sich nicht von denen, die bei Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch generell angewendet werden. Sowohl was die Vorgehensweise als auch was die Erfolgsaussichten angeht, herrscht hier also gewissermaßen "Gleichstand".
Elternschaft zählt zu den selbstverständlichsten und erfüllendsten Erlebnissen einer Paarbeziehung. So grundsätzlich eine Querschnittlähmung auch in alle Lebensbereich eingreift - sie muss dem nicht im Weg stehen. Die Aufgaben, vor denen werdende Eltern stehen, sind ob mit und ohne Rollstuhl die gleichen. Wenn man so will, ein Stück gelebte Inklusion.
Oberärztin Dr. med. Sonja Heitkamp ist Fachärztin für Urologie und Andrologie an der Werner Wicker Klinik in Bad Wildungen. Mit der RehaTreff-Redaktion sprach sie über ihre Arbeit mit von Querschnittlähmung Betroffenen und deren Gedanken zum Thema Elternschaft.
In jungen Jahren eine Querschnittlähmung zu erleiden, tangiert andere Lebenspläne als dieselbe Situation im Alter. Wie gehen nach Ihrer Erfahrung Betroffene mit dem "Projekt Elternschaft" um?
Das kommt natürlich sehr auf die Ausgangssituation an. Eine Querschnittlähmung zu erleiden, ist in jeder Lebensphase ein Schicksalsschlag, der alle Lebenspläne tangiert. Dann spielt natürlich das Alter des Betroffenen, seine soziale Vernetzung und Einbettung in Partnerschaft und Familie eine Rolle und auch sein kultureller Hintergrund. Der Gedanke an eine Elternschaft spielt in der akuten Phase zunächst mal keine Rolle, weil andere Probleme im Vordergrund stehen. Da erscheint der Gedanke, Vater oder Mutter werden zu können, erst mal unvorstellbar. Aufklärung ist in diesem Zusammenhang hilfreich. Wir erläutern die Möglichkeiten.
Gibt es geschlechtsbezogen grundsätzliche Unterschiede in der Herangehensweise der Betroffenen an das Thema?
Unabhängig vom Geschlecht ist es für jeden Betroffenen und jede Betroffene eine beunruhigende und angstbesetzte Situation, wenn vertraute Körperfunktionen nicht mehr vorhanden sind. Das ist mental eine große Herausforderung. In Bezug auf eine mögliche Elternschaft steht dabei natürlich die Frage im Raum: Schaffe ich das?
Wie berührt die Konfrontation mit der Frage nach der Zeugungsfähigkeit das Selbstwertgefühl der Betroffenen?
Wichtig ist hier vor allem eine gute Aufklärung über die Situation. Die Betroffenen brauchen nach dem ersten Schock Informationen über die körperlichen Zusammenhänge und Funktionen im Zusammenhang mit Sexualität und Kinderwunsch unter den neuen Bedingungen. Frauen haben da im Allgemeinen einen Vorsprung, da sie mit dem Thema durch regelmäßige Frauenarztbesuche schon vertraut sind. Männer gehen nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit zur Vorsorge zum Urologen. Insofern sind wir da auch häufiger mit einer Ablehnungs- oder Verdrängungshaltung konfrontiert. Wenn die Frage einer Elternschaft akut wird, stehen wir beratend zur Verfügung. Wir empfehlen generell, das Thema nicht aufzuschieben sondern zeitnah zu handeln, denn das beeinflusst die Erfolgsaussichten.
Wie groß sind nach dem heutigen Stand der Medizin die Aussichten auf eine erfolgreiche Elternschaft bei Querschnittgelähmten? Was sind limitierende beziehungsweise förderliche Faktoren?
Es gibt da keine signifikanten Unterschiede zwischen Querschnittgelähmten und Fußgängern, bei Frauen ohnehin nicht. Die Chancen sind in etwa gleich groß, generell bei Jüngeren besser.
Gibt es, was den Themenkomplex Elternschaft bei Querschnittlähmung betrifft, in den zurückliegenden Jahren nennenswerte Fortschritte oder eher Stagnation bei den Behandlungsmethoden?
Wir sprechen da eher von Fortschritten auf molekularer Ebene. Die gängigen Verfahren der Medizin für die Verwirklichung von Kinderwünschen gibt es schon seit langem und auch die Erfolgsquote hat sich nicht nennenswert verändert. Die liegt bei bestimmten Verfahren bei etwa 30 bis 35 Prozent. Dessen sollten sich Paare mit Kinderwunsch bewusst sein.
Wenn Querschnittgelähmte mit Kinderwunsch an Sie herantreten, bewerten Sie die Situation dann allein nach der medizinischen Machbarkeit, oder fließen auch Aspekte wie Stand der Traumabewältigung und erfolgreiche Handhabung der Lebenssituation in ihre Überlegungen mit ein?
Ach - die Aufgabenstellung ist doch für Querschnittgelähmte wie für Fußgänger die gleiche. Es mag für das Selbstwertgefühl eine Rolle spielen, den Kinderwunsch des Partners erfüllen zu können, aber wenn das Stress verursacht, dann hat das in der Regel nichts mit der Behinderung zu tun. Das Problem haben Fußgänger auch.
Zählt Information und Beratung Frischverletzter in Bezug auf Familienplanung standardmäßig zum Erstreha-Programm oder wird dieses Thema nur auf Anfrage behandelt?
Informationen zu diesem Themenkomplex gehören in das Erstreha-Programm. Aufklärung auf diesem Gebiet ist wichtig und wird standardmäßig angeboten.
Sascha war frisch verheiratet, als ein Autounfall ihn zum Rollstuhlfahrer machte. Das Projekt Elternschaft wurde erst mal auf Eis gelegt. Für die Vaterschaft entschied er sich, nachdem er im Rollstuhl "angekommen" war. Heute ist er glücklicher Vater eines volljährigen Sohnes.
Du bist in jungen Jahren verunfallt und warst zu diesem Zeitpunkt erst kurze Zeit verheiratet. Hattest Du damals schon Ideen in Sachen Familienplanung oder rückte das Thema erst später in den Fokus?
Vor dem Unfall war in unser beider Vorstellungen klar, dass wir Kinder haben wollten. Die Absicht wurde jedoch nach dem Unfall 2002 komplett zurückgestellt, wenn nicht sogar zu den Akten gelegt. Denn so hatte ich mir Vater sein nicht vorgestellt. Ich wollte mit Kindern toben, klettern, Fußball spielen und so weiter. Dementsprechend teilte ich meiner Frau mit, dass ich als Rollstuhlfahrer keine Absicht mehr hätte, Kinder zu bekommen. Zu Beginn der Querschnittlähmung war nichts mehr wie es war, und nicht erkennbar, was geht und was nicht. Dementsprechend war ich auch nicht bereit, die Verantwortung für eine Vaterrolle zu übernehmen. Das konnte ich mir erst nach über zweieinhalb Jahren als Rollifahrer vorstellen, so dass unser Junge 2006 auf die Welt kommen konnte.
Würdest Du sagen, dass das "Projekt Vaterschaft" für Dich eine Rolle bei der psychischen Verarbeitung des Unfallgeschehens gespielt hat oder war die Familiengründung trotz eingetretener Querschnittlähmung eines ein ganz normaler Teil Deiner Lebensplanung?
Hm. Ich glaube nicht, dass es eine Rolle gespielt hat bei der Verarbeitung. Im Gegenteil. Zunächst war mir wichtig, die Dinge zu verarbeiten, um bereit zu sein für die Rolle Vaterschaft. Erst nach über zweieinhalb Jahren im Rollstuhl war mir klar, dass ich mir die Rolle Vater auch vorstellen konnte und es möchte und auch schaffen kann. Mit Kind verschieben sich die Prioritäten grundsätzlich. Sorgen und Nöte wegen des Nachwuchses haben Priorität. Es geht darum, dass es dem Kind gut geht und man verantwortlich ist und ein gutes Vorbild sein möchte. Aus meiner Bewertung ist das aber bei Eltern immer so, ob mit oder ohne Rolli.
Hattest Du bei der Idee der Elternschaft je Bedenken, dass Deine Rollstuhlsituation Probleme aufwerfen könnte?
Absolut. Es gibt nun mal mit Rollstuhl Grenzen. Was ist, wenn man allein mit dem Baby ist und so weiter. Und meine Vorstellungen vor dem Unfall waren auch andere. Aber im Nachhinein muss ich sagen, dass sich dafür mit Kreativität Lösungen fanden, zum Beispiel mit Stillkissen oder Baby Case auf den Knien das Baby durch die Gegend fahren, die Flasche geben, so dass der Kinderwagen wenig in Gebrauch war. Es gab auch nie Situationen, die nicht gelöst werden konnten.
Hattest Du in Deiner Erstreha das Gefühl, in Sachen Sexualität und mögliche Elternschaft Informationen zu bekommen, die für Dich hilfreich waren?
Ja. Ich hatte glücklicherweise eine gute Reha in Bad Wildungen und bin ein offen kommunikativer Typ und habe Antworten auf meine Fragen bekommen. Des Weiteren habe ich in der Reha auch Rollifahrer kennengelernt, die Nachwuchs bekommen hatten. Das war dann hilfreich, auch wenn es zu dem Zeitpunkt für mich weit weg war.
Warst Du mit der Unterstützung, die Du von ärztlicher Seite für die Realisierung Deiner Elternschaft bekommen hast, zufrieden?
Sehr zufrieden. Das Kinderwunsch-Team in Münster war super mit Eingangsgespräch, Vorbereitung und Durchführung der Insemination, in unserem Fall dem Einbringen von Samenzellen direkt in die Gebärmutter und/oder die Eileiter. Das Ergebnis war ein Erfolg im zweiten Versuch. Auch die Umgebung und die Räumlichkeiten waren angemessen und haben Intimität zugelassen.
Dein Sohn ist heute volljährig. Rückblickend betrachtet: Gab es Situationen, die Du im Vergleich zu nicht mobilitätseingeschränkten Vätern als herausfordernd empfunden hast?
Klar. Kreativität ist an der einen oder anderen Stelle notwendig, ist aber auch machbar, so lange man sich einbringen will und seinen Teil beitragen will. Mut gehört auch dazu, mit einem kleinen Baby allein zu sein. Für unser Kind war mein Handicap von Beginn an da und kein Problem. An mancher Stelle musste unser Sohn dann auch schon früh anfangen, mich zu unterstützen und eingebunden zu werden. Das war seiner Entwicklung aber sicher nicht schädlich.
Quelle: RehaTreff, Fachbeitrag "Die selbstverständlichste Sache der Welt. Oder?", 03/2024
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